Aufweckung der Mythen

Gerrit Gohlke

Es ist ein Schwert, mit dem die Künstlerin bewaffnet ist. Sie hat es mit beiden Händen ergriffen wie für ein anstrengendes Gefecht, und ihr linker Unterarm ist von einer schweren Bandage umhüllt. In dem Verband steckt eine Videokamera wie die technische Extremität einer Science-Fiction-Figur. Die Kamera filmt nicht nur, wohin der Arm greift, sie ist auch an ein Kabel angeschlossen, und das Kabel ist die Verbindung zu einem Baum. Er ist das Zentrum, um den der Körper der Akteurin kreist, und an ihn genabelt kommt sie von ihm nicht los. Sechsmal war das Kabel am Anfang der Performance um den Stamm gewunden, bis es, im laufenden Umkreisen abgewickelt, zum Radius eines größer und größer werdenden Spiralkreises wurde, beschrieben durch den Körper der filmenden Künstlerin und markiert mit Spiegelscherben, als fortschreitende Markierung in den Boden gesteckt. Der Körper wickelt das Kabel erst vom Stamm ab, dann wickelt er es wieder zu einer Spule um den Baum, nicht indem er kriecht oder geht, sondern durch flach auf dem Boden vollführte Drehungen um die Körperachse, eine leibhaftige Spindel, die sich über den Boden rollt, bis das Kabel den Körper wieder eng an den Stamm zurückbindet. Am Ende befindet sich der Körper so dicht am Stamm wie zuvor, nur die Scherben sind fast alle zerschlagen. Denn jede Spindeldrehung der Akteurin war zugleich der Versuch, mit dem Schwert eine der Spiegelscherben zu treffen. Jeder Hieb des bandagierten Armes spiegelt das Kameraobjektiv im Glas des Spiegels und erzeugt für Sekunden ein kunstvolles, bewegtes Bild. Trifft die Kameraperspektive den Spiegel entsteht ein kurzes Selbstporträt. Es zeigt das bewegte Selbst der Regisseurin in einer archaischen Fechtchoreographie. Im nächsten Moment aber, wenn der Spiegel gertroffen und aus dem Weg geschlagen ist, geraten das Publikum und die Silhouetten entfernter Gebäude ins Bild, ebenfalls nur für Sekunden, bis sie im Kameraspiegelbild der nächsten Scherbe wieder hinter dem Anblick der Künstlerin verschwinden, ein stetiger Wechsel zwischen innerem Zirkel und äußerer erfochtener äußerer Welt.
Tanz um einen Baum
Ulrike Rosenbach, Tanz um einen Baum
Was sich hier als Dialektik von Innenschau und Befreiungsschlag ereignet, ist ein Kunstverfahren, das die mythische und manchmal auratisch priesterliche Geste nicht scheut. Das Publikum steht ihm nicht selten wie einem Rätsel gegenüber. Es ist aber ein Orakel, in dem sich der ganze Fundus der überlieferten Mythengeschichte zurück auf den Körper und das Erleben der Künstlerin bezieht. Ulrike Rosenbach hat das ganze Arsenal kunsthistorischer Figuren und legendenhafter Rollen inspiziert, um in den ausgesuchten mythischen Bildern selbst zur Akteurin zu werden. Der tänzerische Scherbenkampf von Sydney, in dem sie die Monotonie des introvertierten Spiegelbildes zerschlägt, entspricht den früheren Attacken auf eine Madonna im Rosenhag, deren Reproduktion sie 1975 vermittels eines zeitgemäß sportlichen Bogens in einer Performance mit Pfeilen beschießt. „Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin“, heißt die Arbeit, deren Kern nicht wirklich die Jagd auf eine historische Madonna Stefan Lochners ist, sondern in deren Zentrum eine bildliche Überblendung steht. Das pfeilgetroffene Madonnenantlitz und das Gesicht der Künstlerin verschmelzen übertragen auf einen Videomonitor zu einem einzigen Bild. Es geht um die Einverleibung der Madonna in ein kriegerisches Weiblichkeitsbild. Die statischen Schablonen einer idealisierten mütterlichen Sanftheit und eines in Hollywood populär gemachten Heroinentums werden in einem Moment der physischen Spannung in Bewegung versetzt. Es sind theatralische Akte voller Konzentration und Pathos, in denen Ulrike Rosenbach die vorhandenen Stereotypen aufzulösen beginnt, um sie bildhaft zum Schweben zu bringen.
Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin.
Ulrike Rosenbach, Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin.

Reflexionen über die Geburt der Venus.

Ulrike Rosenbach, Reflexionen über die Geburt der Venus.
Der Bewegungsablauf der Aktionen erscheint dabei schlicht und ebenso ernst. Zugleich gliedert sich der Körper der Akteurin in das Dekor und hohe Pathos der Bilder ein, die sie zitiert. Mitte der siebziger Jahre projiziert sie die kunstkalenderberühmte Venus Botticellis an die Wand. Vor ihr am Boden ein Dreieck aus Salz, in dem die Künstlerin als Hindernis mitten im Projektionslichtstrahl posiert, zu ihrer Seite ein Monitor, der, in eine glänzende Muschel gestellt, gemächliche Meeresbrandung zeigt. Die Künstlerin dreht sich um sich selbst. Ihr vorn weißes, rückseitig lichtschluckend schwarzes Trikot bringt das auf sie gerichtete Bild der Venus abwechselnd zum Aufschein und zum Verschwinden. Paßt die Ausrichtung des Körpers gerade ins Bild, verschwimmt er mit seinem notorischen Idealbild zu einer Einheit. Mit der Abwendung vom Publikum aber hat das Stereotyp weiblicher Schönheit Neumond. Wie in einer Ausblendung des malerisch-künstlerischen Frauenbildes dreht sich die Venus aus dem Bild. Es kommt nicht zur Auslöschung des ererbten Kunstklischees, sondern zu einer Einschränkung und Begrenzung seiner Gültigkeit. Während die kunstgeschichtliche Ikone zum lebenden Bild aufersteht, wird in langsamer Drehung und Bewußtwerdung seine dramatische Hauptperson zum Eigenleben aktiviert.

Als Medium zur Beschwörung der Mythen dient neben dem mit Bedacht bewegten Körper die Natur. Schon in ihrer ersten Performance, in der es vor allem anderen um die praktische Benutzbarmachung der Kunstobjekte und damit die Auflösung eines unbeweglichen Kunstbegriffs ging, ließ sich Ulrike Rosenbach in einem kegelförmigen Schleier auf dem Ausstellungshallenboden nieder. Sie kniete in ihrem Cape, dessen eine Hälfte in Blickrichtung mit Margeriten besetzt war und dessen Saum einen vollkommenen Kreis ergab, wie in einem halb durchlässigen Zelt, aus dem im Verlauf der Handlung Singvögel freigelassen wurden. Diese „Naturkreisaktion“ wurde in freier Landschaft wiederaufgeührt und war nicht nur die Überführung der Skulptur in lebendige Aktion, sondern auch eine Huldigung an die Verschmelzung des Körpers mit seinem naturhaften Umgebungsraum.
Naturkreisaktion

Naturkreisaktion

Ulrike Rosenbach, Naturkreisaktion
Ama-zonas
Ulrike Rosenbach, Ama-zonas
Die Natur erscheint in Ulrike Rosenbachs Arbeiten wie der heilende Gegenmythos. Mehr als ein Jahrzehnt nach der theatralischen Bildverschmelzung von Madonna und Kriegerin ist aus der Amazone „Amazonas“ geworden. Wie eine mystische Animation vollzieht Rosenbach ihre rituellen Gesten der Rhythmisierung und Naturaneignung nun. Inmitten eines rechteckigen Feldes aus Salz reflektiert sich das Videobild von Regenwaldflußsäumen in Spiegeln. Es entsteht eine Bildeinheit von Ritus, Vegetation und Wasser mit dem Salz als einer natürlichen Essenz der Erde, in der die Mythen nich länger in in analytischen und provozierenden Überblendungen aufgelöst werden, sondern sich zu einer harmonischen Collage vereinen.
Wenn in der documenta-Arbeit die Kunstfigur „Or-phelia“ als ein drei Videomonitore überschreitender, um seine Achse gedrehter Frauenkörper sichtbar wird, scheint sich die Spingelbewegung der spiegelfechtenden Künstlerin von 1977 ebenso zu wiederholen wie die Bildüberblendungen historischer Kunstfiguren. Die aus Orpheus und Ophelia synthetisierte Gestalt ist aber 1987 nicht nur in einen gläsernen, feuchten Schrein eineingeschlossen, als sei sie eine dem Wachstum entgegendämmernde biologische Kultur. Sie verschwimmt auch mit Körpersymbolen und Anspielungen auf ihre organische Beschaffenheit. Aus den die Figur überlagernden Bildern von Blutgefäßen und organischem Material soll eine Alchemie der Bildzeichen entstehen, in der die analytische Sprache zugunsten einer poetischen Bildfindung in den Hintergrund tritt. Die Bilder und Legenden werden nicht mehr korrigiert. Ihnen werden Gegenvorschläge entgegengestellt. Die Gegenbilder sind nicht minder mythisch als die Tradition, der sie sich entgegenstellen. Die Hoffnung Ulrike Rosenbachs ist es aber, eine Alchemie der Schönheit könne universalere Mythen schaffen als sie sie in der Kunstgeschichte vorgefunden hat.
Or-phelia

Or-phelia
Ulrike Rosenbach, Or-phelia